Die Fabrik im Frauenwald von Anita Kuisle
Quelle "Landsberger Geschichtsblätter 104.Jahrgang 2005"

Im „Frauenwald" zwischen Landsberg und Kaufering errichtete ab 1939 die Dynamit Aktien Gesellschaft eine Fabrik zur Herstellung von Nitrozellulose. Die Anlage war Bestandteil des Rüstungsprogramms der NS-Regierung im Deutschen Reich. Mit 650 Arbeitskräften sollten monatlich 500 Tonnen Nitrozellulose produziert werden, die zur Weiterverarbeitung zu Geschützmunition in einem Werk bei Kaufbeuren bestimmt waren. ( Zum Werk in Kaufbeuren siehe Hübner 1995.)

Die Fabrik im Frauenwald kann als Musterbeispiel für die präzis formulierten „Richtlinien für den Bau von Fabriken" des NS-Staates gelten, nach denen mehrere Dutzend Fabriken erbaut worden waren. In diesen Richtlinien wurde zum einen höchster Standard in architektonischer, verfahrenstechnischer und sozialer Hinsicht gefordert. Zum anderen sollten rüstungsrelevante Fabriken auch unter Kriegsbedingungen produzieren können. Dies bedeutete ein hohes Maß an Tarnung sowie die Schaffung redundanter Systeme zur Vermeidung von Produktionsausfällen bei teilweiser Zerstörung. Die Anlage im Frauenwald bestand aus rund 130 Bauwerken, die entlang gewundener Betonstraßen im Wald verteilt standen. Es handelte sich um eine komplexe chemische Fabrik mit Produktionsgebäuden, Anlagen zur Energieversorgung, Werkstätten und Sozialgebäuden. Die meisten Bauten trugen flache Trogdächer, die mit Bäumen und Büschen bepflanzt waren. Die Gebäude der Fabrik waren durch ein verzweigtes Netz aus Leitungen für Strom, Wasser, Dampf und Nitrozellulosemasse miteinander verbunden. Kurz vor der Fertigstellung der Fabrik im Frauenwald wurden im Jahr 1941 die Bauarbeiten unterbrochen. Trotz deren Wiederaufnahme im Jahr 1943 gelangte die Anlage bis Kriegsende 1945 nicht mehr zur Vollendung. Die Produktion wurde nie aufgenommen, obwohl die Produktionsanlagen und eines der beiden Kraftwerke weitgehend fertig gestellt und mit den verfahrenstechnischen Anlagen ausgestattet waren. 1945 übernahmen die US-Besatzungstruppen das Gelände im Frauenwald und richteten dort einen Luftwaffenstützpunkt ein. Da die Anlage nicht betriebsbereit war und außerdem in eigener Nutzung stand, stellten die Amerikaner die Zerstörung der Fabrik zunächst zurück. Bis 1948 wurde aber die gesamte verfahrenstechnische Ausstattung der Fabrik demontiert und als Reparationsgut verwendet. Gebäude und Gelände wurden enttarnt, d.h. die Dächer abgeschoben, der Wald abgeholzt. Die geplante Sprengung der Gebäude wurde dagegen immer wieder verschoben und unterblieb schließlich ganz. Nach dem Abzug der Amerikaner 1952 ging das Gelände in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland über, die es der Industrie Verwaltungs Gesellschaft (IVG) zur Verwertung übergab. Von 1958 bis 1995 nutzte die Bundeswehr Teile der Anlage zu Lagerzwecken. Das ganze Gelände blieb während dieser Zeit militärisches Sperrgebiet und streng abgeschirmt. Im Jahr 1998 erwarb die Stadt Landsberg das Areal mit dem Ziel, dort Gewerbeflächen und ein Naherholungsgebiet einzurichten. Geschichtlicher Hintergrund: Munitionsfabriken im NS-Staat2 Die Fabrik im Frauenwald war Bestandteil der Kriegsvorbereitungen des Deutschen Reichs nach 1933. Bekanntermaßen war Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten demilitarisiert worden. Dies hatte auch die Schließung nahezu aller Standorte zur Produktion von Explosivstoffen, also von Sprengstoffen, Zündmitteln und deren Vorprodukten umfaßt. Den Wiederaufbau dieses militärisch bedeutsamen Industriezweiges schaffte die nationalsozialistische Regierung mit Hilfe der deutschen Industrie. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Konzern der I.G. Farben. Nach Kriegsende 1945 beurteilte die Finanzabteilung der Amerikanischen Militärregierung die Rolle der I.G. Farben folgendermaßen: „Die militärische Macht Deutschlands stützt sich zu einem sehr großen Teil auf zwei Säulen: auf die Eisen- und Stahlindustrie sowie auf die I.G. Farbenindustrie A. G. (...). Ohne die riesigen Produktionsstätten der I.G. Farben, ohne ihre weitgespannte Forschung, ohne ihre reiche technische Erfahrung und ohne die wirtschaftliche Macht, die in ihren Händen konzentriert war, wäre Deutschland nicht in der Lage gewesen, im September 1939 seinen Angriffskrieg zu beginnen".3 An Aufbau und Betrieb der neuen Sprengstoffindustrie wirkte die I.G. Farben teils direkt, teils über Tochterfirmen und Beteiligungen mit. Solche Firmen waren die Dynamit AG, die Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse mbH und die Montanindustriewerke GmbH. Es etablierte sich eine raffinierte Zusammenarbeit staatlicher und privater Organisationen, die von Historikern als „Montanmodell" bezeichnet wird, manche Autoren sprechen auch vom „Rüstungsviereck". Die Grundzüge dieses Modells lassen sich so zusammenfassen: Das Deutsche Reich, vertreten durch das Oberkommando des Heeres, finanzierte den Bau der Fabriken, trat aber als Auftraggeber nicht direkt in Erscheinung. Planung und Erbauung der Fabriken lagen bei der Dynamit AG. Nach der Fertigstellung übergab die Dynamit AG die Anlagen an die Montan Betriebsgesellschaft, die sie wiederum für den Betrieb an die Gesellschaft zur Verwertung chemischer Erzeugnisse verpachtete. Diese komplizierte Konstruktion minimierte einerseits die finanziellen Risiken der Privatwirtschaft und verschleierte andererseits die Kriegstreiberei des Deutschen Reiches. Für den Aufbau der Sprengstoffindustrie wurden vom Deutschen Reich in den 1930er Jahren mehrere Programme aufgelegt. Eines davon war der „Schnellplan für die Erzeugung von Pulver, Sprengstoffen und chemischen Kampfstoffen einschließlich der Vorprodukte" vom 13. August 1938. Dieser Plan beinhaltete den Neubau von mehr als 40 Fabrikationsstätten im Deutschen Reich, 28 davon errichtet durch die Dynamit AG, darunter waren acht Fabriken zur Produktion von Nitrozellulose. Eine davon war die Fabrik im Frauenwald.

Die Darstellung stützt sich hier überwiegend auf die gründlichen Recherchen von Gregor Espelage zur Fabrik in Hessisch Lichtenau, publiziert Espelage 1994 Office of Military Government for Germany, United States. Finance Division - Financial Investigation. Übersetzt und bearbeitet von der Dokumentationsstelle zur N.S.-Sozialpolitik Hamburg, Nördlingen 1986, S. 15. Hier zitiert nach Espelage 1994, S.9.

Baugeschichte
Am Standort Frauenwald waren alle Faktoren für die Errichtung einer Fabrikationsanlage für Nitrozellulose gegeben: Ein dichtes, unbebautes Waldgebiet mit einer guten Anbindung an das Eisenbahnnetz und einem Fluß mit hoher Wasserführung in der Nähe. Zu den bebauten Gebieten herrschte ein ausreichender Sicherheitsabstand. Und von politischer Seite war kein großer Widerstand gegen die Errichtung einer militärischen Einrichtung zu erwarten. Als Bauplatz wurde ein Areal unmittelbar südlich der Bahnlinie von München nach Buchloe ausgewählt. Die neue Fabrik erhielt einen eigenen Gleisanschluß. Die Erschließung von der Straße aus erfolgte von Süden. Das Werk im Frauenwald wurde im Sommer 1938 geplant und ab 1939 gebaut. Die hauptsächlichen Bauarbeiten erfolgten in den Jahren 1940 und 1941. Im September 1940 waren auf der Baustelle 2600 Arbeiter beschäftigt. Die Fertigstellung des Werkes war zu diesem Zeitpunkt für März 1941 vorgesehen.4 Dieser Zeitplan wurde nicht eingehalten. Im Jahr 1942 wurde der Bau unterbrochen, 1943 wieder aufgenommen5. Gründe für diese Bauverzögerung, -einstellung und -wiederaufnähme waren zum einen die schwankenden Prognosen für den Munitionsbedarf der deutschen Wehrmacht, zum anderen der Machtkampf um die im Verlauf des Krieges schwindenden Ressourcen des Deutschen Reiches. Die Errichtung der Munitionsfabriken konkurrierte bei der Zuteilung von Rohstoffen und Arbeitskräften gegen andere ehrgeizige Projekte wie beispielsweise die Luftfahrt- und Raketenforschung in Peenemünde. Die geplante Fertigstellung der Fabrik im Frauenwald gelang auch im zweiten Anlauf nicht. Bei Kriegsende im Mai 1945 waren die Anlagen noch nicht in Betrieb gegangen. Es ist aber davon auszugehen, daß ein Großteil der Gebäude nicht nur baulich fertiggestellt, sondern auch vollständig ausgestattet war. Im August 1945 wurde die Fabrik im Frauenwald von der amerikanischen Luftwaffe übernommen6. Im April/Mai 1947 erfolgte die „Enttarnung" des Geländes. Dazu wurde der Wald abgeholzt und der Bewuchs von den Dächern der Gebäude abgeschoben7. Bis 1948 demontierten die Amerikaner außerdem alle maschinentechnischen Anlagen und versandten sie als Reparationsgut8. Bei dieser Demontage wurden Decken und Außenwände zerstört, wenn dies zur Entnahme der Anlagenteile nötig war. Von 1958 bis 1995 mietete die Bundeswehr das Gelände der Fabrik im Frauenwald. Wenngleich nur einzelne Gebäude zu Lagerzwecken Verwendung fanden, wurde das gesamte Gelände abgesperrt. Drei Lagergebäude standen während der Mietzeit der Bundeswehr in Verwendung der US Streitkräfte und wurden für die Lagerung von sogenannter Sondermunition genutzt. Die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen sind einigen Landsbergern noch heute gut im Gedächtnis. Die Mehrzahl der Gebäude auf dem Gelände blieb jedoch dauerhaft ungenutzt und so im bauzeitlichen Zustand erhalten. Das Gelände der Fabrik im Frauenwald, ihre Verwaltung, ihre Anlagen oder Teile davon wurden bauzeitlich unter den Namen Frauenwald, Bauleitung Kaufering, Bauleitung der DAG Kaufering, Gelände der Dynamit AG, Projekt 39, Projekt 139 und Werk Hopfen geführt. Während der Besatzungszeit bezeichnete man das Werk als Fabrik Kaufering,

Bundesarchiv Militärarchiv RW 21-1/5 Bundesarchiv Militärarchiv RW 21-47/6: Fertigungsbeginn geplant für Okt./Nov. 1944 zunächst von der 9th Air Force, später von der 16th Air Ammo Sg.; Bay. HStA, OMGBY, CO-466/1, hier zitiert nach HPC 1996, S. 35. Bay. HStA, OMGBY 5/439-1/3 Aus Bay. HStA, OMGBY 5/379-2/4 läßt sich entnehmen, daß insge samt 808 Objekte demontiert wurden. Eine detaillierte Auflistung dazu, die sich nach HPC 1996, S. 38 im Besitz der IVG befand, ist nicht mehr auffindbar.

Kaufering Rep. No. 35, D.A.G. Kaufering, D.A.G. Gelände, Versuchswerk Kaufering, DAG Fabrik Warthe Lech, Fabrik Landsberg, Air Ammunition Depot, Area B bomb storage und 16th Air Ammo Depot. Nach Übernahme durch die IVG verwendete man die Bezeichnungen Werk Kaufering, Werk Landsberg/Lech, Gerätedepot Landsberg a. Lech, Teildepot-Gerät Landsberg a. Lech und Werk 31.

Der Produktionsprozeß
Das Produktionsverfahren für Nitrozellulose wurde im 19. Jahrhundert entwickelt. Ausgangsstoff war Baumwolle. Im 20. Jahrhundert lernte man, den Stoff im großtechnischen Maßstab aus Holzzellulose zu erzeugen. Um 1940 war das großtechnische Verfahren zur Herstellung von Nitrozellulose in den Industrienationen Europas und in den USA ausgereift9. Die in Deutschland zu militärischen Zwecken errichteten Produktionsstätten sind hinsichtlich Verfahren und Ausstattung als führend für ihre Zeit anzusehen.10 Chemisch betrachtet handelt es sich bei Nitrozellulose um Salpetersäureester der Zellulose. Sie entstehen durch Einwirkung von Salpetersäure auf zellulosehaltige Substanzen wie Baumwolle, Flachs, Holzfaser oder Jute. Die Herstellung von Nitrozellulose umfaßt grundsätzlich die beiden Schritte Nitrieren und Stabilisieren. Zum Nitrieren wird Zellulose in ein Säurebad getaucht. Um die frische Nitrozellulose vor Selbstentzündung zu schützen, vermischt man sie für den weiteren Produktionsprozeß mit großen Mengen an Wasser. Zur chemischen Stabilisierung der Nitrozellulose wird dieses Wasser-Zellulose-Gemisch erwärmt und unter Druck gesetzt. Eine zentrale Funktion im Produktionsprozeß nahm die Säurewirtschaft ein. Die zum Nitrieren verwendete Säuremischung aus Salpetersäure, Schwefelsäure und Wasser wurde nicht fertig bezogen, sondern im Betrieb hergestellt. Dabei wurden die Abfallsäuren aus der Produktion aufbereitet und mit frischer Säure angereichert. Der Zellstoff kam in Form von zu Ballen gepreßtem Krepp-Papier in die Fabrik. Man verwendete Zellulose aus 70% Buchen- und 30% Tannenholz11. Um bei der Nitrierung einen innigen Kontakt zwischen Zellulose und Säure zu gewährleisten, mußte das Papier zu Flocken zerrissen werden. Diese Flocken wurden dann getrocknet auf 1-2% Feuchtegehalt, da die Feuchtigkeit im Papier die Nitriersäure verdünnt hätte. Zum Nitrieren wurden Zellulose und Säure im Verhältnis 1:50 zusammengebracht. Die Verwendung dieser großen Säuremengen hatte mehrere Gründe. Zum einen war eine rasche und gleichmäßige Sättigung der Zellulose mit Säure die Voraussetzung für eine gleichmäßige Nitrierung. Zum anderen wirkte man mit den großen Säurebädern der Erwärmung des Gemisches sowie seiner Verdünnung durch die chemische Reaktion entgegen. Einer lokalen Erhitzung aufgrund der exothermen Reaktion und der damit verbundenen Entzündungsgefahr begegnete man außerdem mit Rührwerken. Nach Abschluß des Nitrierprozesses wurde überschüssige Säure vom Produkt abgeschleudert und die frische Nitrozellulose mit großen Mengen Wasser vermischt. Anzumerken bleibt, daß bei der Nitrierung von Zellulose keine einheitliche chemische Verbindung entsteht. Vielmehr hat man es mit einer Stufenfolge von Salpetersäureestern zu tun, deren Zusammensetzung durch die Parameter der Produktion (Temperatur, Säurekonzentration etc.) beeinflußt wird und somit leichten Schwankungen unterliegt. Die frische Nitrozellulose mußte nun stabilisiert werden, um einer Selbstzersetzung oder gar Selbstentzündung der Nitrozellulose entgegenzuwirken. Die chemischen Vorgänge während der Stabilisierung waren 1940 noch nicht vollständig geklärt (sind es aufgrund der komplexen Beschaffenheit der Zellulose auch bis heute nicht restlos). Man hatte jedoch empirisch ein Verfahren entwickelt, das zum gewünschten Produkt führte. Die Stabilisierung erfolgte in mehreren Schritten. Das Nitrozellulose-Wasser-Gemisch wurde zunächst unter Atmosphärendruck, anschließend unter erhöhtem Druck gekocht. Dieses Druckkochen diente neben der Stabilisierung auch der Einstellung der Viskosität der Nitrozellulose. Nach den beiden Kochvorgängen wurden die Zellulosefasern mechanisch zerkleinert. Dieses Mahlen und Zerschneiden der Zellulose setzte zum einen Säure frei, die in den Fasern eingeschlossen war. Außerdem diente das Holländern, wie das Zerschneiden nach den dazu benutzten Maschinen auch genannt wurde, der Herstellung einer Zellulosemasse mit einheitlich kurzen Fasern, wie sie für die Weiterverarbeitung gewünscht war. Die zerkleinerte Nitrozellulose wurde schließlich ein drittes und letztes Mal gekocht. Zwischen den beschriebenen Stabilisierungs-Prozessen wurde der Nitrozellulose-Brei immer wieder mit Wasser gespült und ausgewaschen. Abschließend wurde die Nitrozellulose gemischt, abgeschleudert, gereinigt und verpackt. Das Mischen war notwendig, da der Stickstoffgehalt der produzierten Nitrozellulose aufgrund leicht veränderter Parameter während des Nitriervorgangs variierte. Um trotzdem ein Produkt mit auf '/io % genau eingestelltem Stickstoffgehalt zu erzielen, wurde Nitrozellulose aus mehreren Chargen miteinander vermischt12. Nach diesem Vorgang wurde das Wasser, das während des gesamten Produktionsprozesses als Transportmedium gedient hatte, von den Fasern abgeschleudert. Die fertige Nitrozellulose wurde schließlich von Unregelmäßigkeiten wie verklumpten Fasern oder mitgeschlepptem Sand, Metallspänen etc. befreit, auf den gewünschten Wassergehalt von 35% gebracht und in Fässer verpackt.
jürgen123 - 01.04.2007, 22:02
Der Stand der Entwicklung ist sehr detailliert nachzulesen in Urbanski 1963, Bd2. Das polnische Originalwerk, auf dem die deutsche Oberset zung beruht, wurde 1954 publiziert. Dies zeigt sich auch in dem ausgeprägten Interesse, das die britischen und amerikanischen Besatzer nach Kriegsende der deutschen Verfahrenstechnik entgegenbrachten. Der britische und der amerikanische Geheimdienst verfaßten 1945/46 mehrere Berichte über die deutsche Sprengstoffherstellung, die als BIOS und CIOS Berichte publiziert wurden (British Intelligence Objetives Sub-Committee, Combined Intelligence Objectives Sub-Committee; siehe Literaturverzeichnis). In der deutschen Ausgabe des Urbanski werden zwar Birke und Fichte genannt, in den alliierten Berichten CIOS XXVII-72 und CIOS XXVII-73 wird die Zusammensetzung der Zellulose aber zu 70% Buche (beech) und 30 % Tanne (fir) angegeben. Da der deutsche Urbanski von einer tschechischen Ausgabe des polnischen Originals erstellt wurde, ist den CIOS-Berichten mehr Glauben zu schenken. Zumal sich Urbanski ja ebenfalls der englisch verfaßten CIOS-Berichte als Quelle bediente.

Die Fabrikanlage
Bei der Fabrik im Frauenwald handelt es sich um eine Anlage zur großtechnischen Produktion von Nitrozellulose, einem explosions- und brandgefährdeten Stoff. Die Fabrik ist ausdrücklich für eine Fertigung unter (Luft)Kriegsbedingungen gebaut. Die Planung der Anlage berücksichtigte deshalb die Anforderungen von Explosionsschutz und Tarnung. Außerdem war die Fertigung in zwei Linien angelegt, damit bei einer teilweisen Beschädigung des Werkes die Produktion nicht völlig unterbrochen worden wäre. Die Hauptverkehrswege waren so geplant, daß sie bei Gebäudeeinstürzen nicht verschüttet werden konnten.

Die erzeugte Nitrozellulose mußte hinsichtlich Stickstoffgehalt, Viskosität und Faserlänge der Nitrozellulose den eng gefaßten Vorgaben der Pulver-Fertigung entsprechen. So mußte der Stickstoffgehalt für die sogenannte PE-Wolle oder Collodiumwolle zwischen 11 und 11,3 % liegen, für die sogenannte SW-Wolle oder Schießwolle zwischen 13 und 13,3%.

Zur Tarnung der Fabrik gegen die erwartete Luftaufklärung der Kriegsgegner diente eine ganze Reihe von Maßnahmen. Dies war der Bau der Fabrik in einem dicht bewaldeten Gebiet, die Aufteilung der Funktionen auf eine Vielzahl kleinerer Gebäude, die Vermeidung gerader Reihung von Gebäuden, die Verwendung langer, schmaler anstelle quadratischer Gebäudegrundrisse, die Anlage großer und unregelmäßiger Abstände zwischen den Gebäuden, die Bepflanzung der Dächer mit Büschen und Sträuchern der Umgebung, die Ausführung von Baueinheiten in Form von Gutshöfen oder Wohnbauten, die Vermeidung glatt geschnittener Dachkanten und Kaminhüte, die Erhaltung großer Bäume zur Überschattung gerader Dachkanten, die gewundene Führung der Straßen und Wege, die Einrichtung von Saugzügen anstelle hoher Schornsteine sowie die Einrichtung von Verdunkelungssystemen für Innen- und Außenbeleuchtung. Die Einhaltung dieser Regeln führte zu einer weitläufigen Fabrikationsanlage, deren Produktionsschritte auf eine Vielzahl einzelner Bauwerke im Wald verteilt waren. Funktional unterteilt sich die Bebauung im Frauenwald in die beiden Fertigungslinien, zwei voneinander unabhängige Kraftwerke sowie technische und soziale Infrastrukturgebäude. Produktionsgebäude sind die Nitriergebäude, die Kocher-, Druckkocher-, Stabilisatoren- und Holländergebäude sowie die Mischergebäude mit den Stofffängern. Im weiteren Sinn gehören auch die Zellstofflager, die Trockenhäuser, die Trockenzwischenstationen sowie die Frisch- und Abfallsäurelager, die Säuremischanlage, die Säurezwischenlager und die Denitrierung zu den Produktionsgebäuden. Die Mehrzahl dieser Gebäude konzentriert sich im Südosten des Werksgeländes. Die Anordnung der Gebäude und der Materialfluss der beiden Fertigungslinien verlief im wesentlichen von Süden nach Norden. Zum Kraftwerkskomplex gehören das Kohlenlager, das Kesselhaus mit Rauchgasreinigung, Entaschung, Speisewasseraufbereitung und das Turbinenhaus. Der erzeugte Strom wurde über das zentrale Schalthaus zu den Trafostationen geleitet, die jeweils unmittelbar neben den zu versorgenden Produktionsgebäuden standen. Ein solcher Kraftwerkskomplex befindet sich im Südosten des Geländes. Ein zweiter, nur ansatzweise realisierter Komplex steht im Norden, nahe der Bahnlinie. Die Gebäude der technischen Infrastruktur konzentrierten sich, in jeweils unregelmäßiger Anordnung, auf zwei Areale. Östlich der Fertigung befinden sich Schlosserei, Autowerkstatt, Tankstelle, Feuerwehr, der Elektrokarrenschuppen sowie Werksküche und Wäscherei.13. Nördlich der Produktionsanlagen liegen in relativer Nachbarschaft Schmiede, Schreinerei, Elektrowerkstatt und Labor. Die so genannten Wohlfahrtsgebäude (Kantine und Waschräume) sowie die Abortanlagen waren zweckmäßig über das ganze Gelände verteilt. Der Straßenzugang befand sich im Süden des Geländes, unmittelbar an der heutigen Iglinger Straße. Hier standen das Wachhaus, eine Unterstellhalle für Fahrräder und das (nicht getarnte) Verwaltungsgebäude. Unmittelbar am Werkseingang lag außerdem die so genannte Werkrettungsstelle, also die Sanitätsstation des Betriebes. Alle Gebäude auf dem Gelände waren durch Schienen- und Straßenverbindungen sowie durch eine Vielzahl von Leitungen miteinander verbunden. Dazu gehören Rohrleitungen für Dampf, Wasser und Nitrozelluloseprodukte, Elektro- und Telefonleitungen sowie Abwasserkanäle. Für Transporte zwischen Werkstätten und Produktion wurden Elektrokarren eingesetzt.

Die Gebäude
Architektonisch lassen sich bei den Gebäuden der Fabrik im Frauenwald drei grundsätzliche Typen unterscheiden. Am häufigsten tritt die Skelettbauweise auf. Der Gebäudekörper besteht aus Stahlbetonstützen, auf denen ein überragendes flaches Trogdach aus Stahlbeton ruht. Die Gefache zwischen den Stützen sind ausgemauert. Das Dach war bepflanzt. In Skelettbauweise wurden Produktions- und Lagergebäude errichtet. Die besonders explosionsgefährdeten Druckkochergebäude sind mit einem Erdwall umgeben. Ein zweiter Typus sind Bauten aus massivem Stahlbeton. Teils sind sie als tonnenförmige Gewölbe errichtet, die komplett mit Erde überdeckt waren. Deren Erschließung erfolgt über eine freiliegende Giebelseite. Andere Gebäude aus massivem Stahlbeton sind als aneinander gesetzte Kuben mit abgetrennten Dächern ausgeführt. Aus Stahlbeton wurden die Bauten der Energieversorgung errichtet. Der dritte Bautypus sind die als Gutshöfe oder Wohnhäuser getarnten Bauwerke. Sie sind aus Ziegeln gemauert und tragen flache Satteldächer. Nach diesem Muster sind Werkstätten und Sozialgebäude gebaut. Am Lech, nordöstlich des Werksgeländes, lag das Wasserwerk der Fabrik, das der Aufbereitung von Flusswasser dienen sollte. Von dort sollte das Betriebswasser in gewaltigen Rohrleitungen in die Fabrik geführt werden. Die Anlagen am Lech sind heute größtenteils zerstört. Lange Jahre erinnerte noch das so genannte Weiße Haus an die Wassergewinnungsanlagen.

Diese Gebäude sind inzwischen (2005) größtenteils abgebrochen.

Bewertung und Ausblick
Im Frauenwald bei Landsberg hatte sich bis 1998 in militärisch bedingter Abgeschiedenheit der komplette Gebäudebestand eines im NS-Deutschland gebauten Rüstungsbetriebes erhalten. Die Anlage zur Produktion von Nitrozellulose bestand aus rund 130 Bauwerken, von denen inzwischen etwa 20 abgebrochen worden sind. Zwischen 1938 und 1945 waren im Deutschen Reich mehrere Dutzend vergleichbarer Fabriken neu errichtet worden. Dabei wurden standardisierte Gebäudetypen baukastenmäßig zu Fabriken zusammengestellt. Die Schwesterwerke zur Herstellung von Nitrozellulose waren bis ins Detail baugleich mit der Fabrik im Frauenwald, die Werke zur Herstellung anderer Stoffe wiesen große Ähnlichkeiten auf. Die Landsberger Anlage steht somit als einzige materiell erhaltene Anlage exemplarisch für eine Vielzahl von Fabriken, die im ganzen deutschen Reich verteilt standen. Alle anderen Anlagen wurden unmittelbar nach Kriegsende zum größten Teil zerstört. Besonders interessant sind aus technikhistorischer Sicht die Produktionsgebäude und die Bauten der Energieversorgung. Das Kraftwerk der Fabrik im Frauenwald ist aller Wahrscheinlichkeit nach das einzige erhaltene Beispiel für ein in Tarnbauweise erbautes Kohlekraftwerk der 1930er-Jahre mit Schwemmentaschung und Rauchgasreinigung. In der Regel waren die funktionsfähigen Kraftwerke von Rüstungsbetrieben unmittelbar nach Kriegsende gesprengt worden. Wenngleich schon die Details für sich genommen von hohem geschichtlichen Wert sind, so liegt doch in der Geschlossenheit der Überlieferung der Fabrik mit nahezu allen Produktions-, Infrastruktur- und Sozialgebäuden der eigentliche Wert der Anlage. Die Nitrozellulosefabrik im Frauenwald bei Landsberg ist ein in ihrer Art einmaliges Zeugnis für den hohen Stellenwert der Rüstung im NS-Staat und für die hochprofessionelle und perfektionistische Ausführung militärischer Anlagen dieser Zeit. Derzeit sind die Bauten der Fabrik im Frauenwald stark gefährdet. In der hitzig geführten Diskussion um die Ansiedlung eines Gewerbebetriebes im Norden des Geländes werden die Gebäude instrumentalisiert. Der Oberbürgermeister der Stadt Landsberg spricht etwa von einer „Verschandelung" des Waldes durch die historischen Bauten14.

Süddeutsche Zeitung vom 29.09.2005